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Spuren


(@Anonym)
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Das Meer strömt sanft über den Strand. Nackt liegt sie auf dem noch vom Tage her warmen Sand. Die Arme weit, weit zur Seite gestreckt, die Fersen eingegraben, das Kinn Richtung Himmel, die Augen geschlossen. Leise summt sie eine Melodie vor sich hin. Fühlt die Töne in ihrer Kehle, dann in ihrer Brust und tief brummend in Bauchhöhle und Becken.

Ein altes Lied aus weit zurück liegenden Kindertagen. Schmeichelnd, einschläfernd. Sie hat keine konkrete Erinnerung daran, keine Bilder in sich, dass jemals jemand für sie ein solches gesungen hätte. Keine Erinnerung daran, dass sie jemals umfangen war so kurz vor dem Einschlafen und sie hinüber begleitet wurde in die Dämmerung der Träume.

Ihr inneres Lied vermischt sich mit dem Geräusch der sich aufbäumenden Wellen und immer öfter umspült das salzige Wasser ihre Beine und dringt langsam, quasi zögerlicher wie eine unsichere Berührung, vor bis zu ihrer Hüfte, einer weichen, wohligen Decke gleich.

Sie schlägt die Augen auf und richtet ihren Blick hoch zu den unzähligen Sternen. Jeder Stern einmal ein Wort. Worte von unendlicher Schönheit und Tiefe. Magische Worte, die sie banden und vor denen sie sich beugte. Wortfesseln, weiche Schlingen. Aus jedem Stern sich eine Galaxie gebärend aus Träumen und Hoffnung. Die Worte verschwanden. Lösten sich auf mit dem Fortschreiten der Zeit. Jedes gebrochene Wort, jeder taumelnde, in der Unendlichkeit uneingelöster Wahrheiten sich auflösender Buchstabe nahm als Preis für die kurzfristig geschenkte Freude und das momentane Glück ein kleines Stückchen von ihrem Lachen mit. Am Schluss blieben nur die Sterne übrig und die dichten Nebel der Traurigkeit in ihr. Zeugen und Versprechen. Lichter am Wegrand. Begleiter in das nächste Leben.

Sie zieht die Beine unter sich, richtet sich auf, spreizt die Schenkel. Der Rücken gerade, den Kopf gesenkt nun. Wie oft hatte sie so gekniet in all den Jahren. Still, einsam, unberührt. Hochgezogen sehr wohl, gebunden, geschlagen, benutzt, umarmt, geküsst, gefickt. Doch niemals berührt. Tobend vor Lust sich verschenkend, badend in Schmerz und Blut und dem Nass ihrer Scham. Doch niemals berührt. Schreiend vor Freude, Gier, unsäglicher Gier, sich verströmend in dem Wohlbefinden des Gegenübers, grenzenlos ab und an, sich fast verlierend. Doch niemals berührt.

Kein Knie, das sich jemals gebend vor ihr beugte. Keine Hände, die ihr Gesicht wärmend umfassten. Keine Augen, die tief in den ihren versanken um gemeinsam mit ihr verschlungen aufzutauchen. Kein Mund, der mehr als funkelnd filigrane Worte sprach, die dann doch wie klirrende Eissplitter kurz vor ihrem Herzen zerbrachen.

Sie lernte so viel und vor allem eins: Worte waren nicht mehr als ausgebrannte Sterne in einem letzten feurigen Licht über den Horizont huschend und dann für immer verglühend in der Alltäglichkeit des Seins.

Es war so unwichtig ob sie sich prüfte, korrigierte, nach Demut und Hingabe strebte. Es war so nebensächlich ob sie treu, zuverlässig, loyal war. Es war von keiner Bedeutung, ob sie sich ganz ergab oder nur spielte. Ihr Sein war belanglos und jederzeit durch ein in der Bedienung weniger anstrengendes Anderes mit entsprechenden Attributen der Äußerlichkeit zu ersetzendes. Es gab anscheinend nichts in ihr, was einem Gegenüber exklusives Glück und Zufriedenheit bringen konnte. Ihre Liebe war nicht gefragt in diesen Zeiten der austauschbaren Mittelmäßigkeit und des Überdrusses und der aufstoßenden Sattheit.

Sie nimmt ihre Traurigkeit in die nach oben gedrehten Hände, lässt sie eine Weile tanzen im Licht des nun herabscheinenden Mondes. Bedankt sich bei ihr für Begleitung und Lektion und schleudert sie weit, weit hinaus ins offene Meer.

Tief einatmend, den Kopf erhoben, schreit sie all den Schmerz aus sich heraus. Mit jedem Atemzug, mit jedem Schrei zerreißt sie ein Bild, einen Traum, eine Erinnerung in sich, spuckt die aufgequellten Fetzen aus, fühlt sich leichter, leerer und befreiter.

Dieses eine Mal wird sie den Schmerz für sich selbst als Türöffner benutzen. In glitzernder Schönheit dringt die hauchfeine Klinge durch Gewebe und Fleisch. Sanft pulsierend strömt das rote Nass von ihren auf den Oberschenkel liegenden Armen in den Sand. Jeder Tropfen wie ein leiser Schlag auf einer mit Fell umspannten Rundung. Leise zuerst im Rhythmus ihres Herzens. Sich dann vermischend mit dem Schlag der sich aufbäumenden Wellen lauter, tiefer, rufender… … …

Eine Hand unter ihrem Kinn, ein sich in ihren Lippen verbeißender, liebevoller Kuss. Silbernes Haar an ihren Wangen, Wolfsaugen ihren Blick umfangend, sanfter Atem ihren Körper umstreichelnd. Die Frau kniet vor ihr, bettet ihre gelösten Hände zärtlich in ihren Schoß.

„Komm, Liebes, komm!“

Das Meer strömt sanft über den Strand. Die kleinen vorwitzigen Wellen umspülen die noch warmen Fußspuren im Sand und löschen sie mit fortschreitender Nacht in gleichmäßiger Vergessenheit auf.

(HM)


   
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