Benachrichtigungen
Alles löschen

Herr Archibald von der alten Eiche


(@Anonym)
New Member Gast
Beigetreten: Vor 1 Sekunde
Beiträge: 0
 

Herr Archibald von der alten Eiche wohnt in meinem Kleiderschrank. Nach seinen beiläufigen Bemerkungen schon seit einigen Jahrzehnten.

Herr Archibald von der alten Eiche ist uralt und gastierte schon in unzähligen anderen Schränken und Kommoden, überall auf der Welt und seit nicht überschaubaren Zeiten. Er ist sozusagen ein Zeiten- und Schrankwanderer mit einem recht großen Erfahrungsschatz und weltmännisch offenem Blick für alles Seltsame und Abstruse.

Herr Archibald von der alten Eiche ist eine Art Holzwurm. Größer, dicker, behäbiger als die mir bekannten heimischen Vertreter.
Und nein, Er befindet sich nicht im Entwicklungsstadium zum Käfer. Irgendwie ist ihm dieser Weg wohl verwehrt. Genaueres weis ich darüber noch nicht. Bisher verweigerte Er mir hierzu jedwede Auskunft und wird grummelig, wenn ich zu sehr auf dieser Frage rum reite. Darum lass ich es lieber. Denn ich mag nicht, wenn Herr Archibald von der alten Eiche schlechte Laune hat. Denn dann spricht Er nicht mehr mit mir. Und unsere Gespräche sind mir wichtig, sehr wichtig.

Herr Archibald von der alten Eiche ist mein Vertrauter, mein Mentor, mein Beichtvater, meine Klagemauer und vieles mehr. Mit Ihm bespreche ich all meine kleinen und großen Ideen, Gedanken, Einfälle. Ihm teile ich mein Durcheinander, meine Träume, meinen Ärger, meine Freude und meine Zweifeln mit. Er ist manchmal mein Mülleimer, meine Gedankenschale, meine Wiederaufbereitungsanlage.
Er hört zu. Er sammelt, schweigt, kommentiert ab und an mit spitzer Zunge und scharfem Verstand.

Meistens geht es mir besser nach unseren Gesprächen. Manchmal verspüre ich aber auch den Drang in die nächste Drogerie zu rennen und ein hundertprozentig wirksames Holzwurmmittel zu besorgen.
Immer dann, wenn Er mich nicht ausweichen lässt. Wenn Er mein so kuscheliges Selbstmitleid mit leicht hochgezogenen Augenbrauen und messerscharfer Logik in den Boden argumentiert oder Er mich mit Seinem unerbittlichen Blick durch Seine alte Nickelbrille davon abhält genüsslich in meine selbst inszenierte Weltschmerzorgie abzutauchen.

Herr Archibald von der alten Eiche ist mein Anker in all dem Chaos, das mein Leben ausmacht. Aber, Er ist nicht mein Freund. So viel Nähe würde Er als unverschämte und anmaßende Grenzüberschreitung von meiner Seite aus betrachten. Herr Archibald von der alten Eiche legt großen Wert auf Seine adelige Abstammung und ist, wohlwollend angemerkt, ein wenig hochnäsig und eingebildet. Seine Freundschaft verschenkt Er nicht nach dem Gießkannenprinzip und schon gar nicht blindlings oder gar hastig an so ein kurzlebiges Menschenwesen wie mich.

Wir kommen jedoch verdammt gut miteinander aus. Meistens.

Unsere Gespräche laufen zum Beispiel wie folgt:

Madame, was machen Sie da?

Ich räume auf.

Verzeihung Madame, Sie räumen nicht auf, Sie hampeln hektisch und ziellos durchs Zimmer und machen mich nervös.

Und, ist das mein Problem? Dann schauen Sie doch einfach nicht hin.

Madame, nehmen Sie Ihr Kissen und setzen sich hier hin zu mir. Jetzt! Sofort!

Ja, gut. Ist ja schon gut.

Was ist los, Madame? Was bedrückt Sie?

Nix. Mir gehen nur dumme Gedanken durch den Kopf.

Und weiter?

Was und weiter?

Madame! Jetzt reden Sie schon. Was bedrückt Sie, was belastet Ihr süßes Köpfchen heute? Jesses, sind Weiber manchmal kompliziert!

Aha, Weiber sind kompliziert! Und Männer? Ich verstehe nämlich die Männer nicht. Sie sind mir ein Rätsel. Da lebte ich 13 Jahre mit Herrn X zusammen und bekam täglich erzählt, wie sehr er sich nach einer jungen, jungfräulichen Frau aus seinem Kulturkreis sehne. Schlank und groß solle sie sein, mit langen schwarzen Haaren und mit ihm reden und gut für ihn kochen solle sie können. Sein ganzer Stolz solle sie sein, wenn er mit ihr ausgeht und sie herum zeigt.

Dann ist da Herr Y, der sich mein liebender Freund nennt. Und der die meiste Zeit seiner Zeit vor dem PC verbringt und sich Bildchen und Filme reinzieht, von Frauen, die genau so sind, wie er sie sich erträumt und nach denen er sich sehnend verzehrt.

Und Herr Z? Jeden Tag legt er mir seine Sehnsucht nach einem schlanken Weib mit kaum vorhandenem Brüsten und Beinen bis zum Hals vor die Füße. Kein Gespräch mit Freunden und Bekannten vergeht, ohne dass er über diese, seine Sehnsucht spricht. In aller Ausführlichkeit. Wieder und wieder zeigt er mir täglich Fotos von Frauen, die seinen Träumen entsprechen und nach denen er sucht und sucht und sucht. Kein Spaziergang, kein Einkauf, kein Stadtbummel ohne dass er mir diese oder jene, die seinen Vorstellungen nahe kommt, begehrend zeigt.

Mit allen drei Männern lebte oder lebe ich zusammen. Alle drei sprachen oder sprechen mir von Liebe. Alle drei behaupten, ich sei die tollste, beste, wunderbarste Frau überhaupt. Und gleichzeitig tragen sie ihr Begehren, dessen Objekt ich eben anscheinend nicht bin, offensichtlich leidend und öffentlich mit sich rum. Knallen es mir quasi stündlich um die Ohren, damit ich es ja nicht übersehen kann. Und ich brenne vor Hunger und verzehre mich, während sie sich ebenso verbrennend neben mir sehnen. Ich verstehe es nicht, Sir Archibald, ich verstehe es einfach nicht. Es tut auf eine dumme Art saumäßig weh und ich weis kein Mittel gegen diesen Schmerz.

Ach ja, und Herr X entblödete sich nicht mir seit unserer Trennung noch heute vorzujammern, was er so schrecklich gerne alles mit und gemeinsam mit mir tun würde, heute, jetzt. Verdammicht, er hatte dreizehn Jahre Zeit dazu und hat während dieser einem Traum hinterher jagend dieselbe verplempert.

Das ist doch alles ein kompletter Wirrwarr. Erklären Sie mir die Männer, Sir Archibald, bitte!

Nun, Madame, Da bin sogar ich ein wenig überfordert. Schon alleine die drei Herren, die Sie kurz benannten. Wie unterschiedlich sind diese doch in Charakter, Wesen, Lebensart und Neigung. Da gibt es keine Schablonen, die man ihnen allen passend überstülpen könnte. Gerade Sie Madame wissen doch um die Einzigartigkeit des Individuums und dass man niemanden auch nur annähernd durch Verallgemeinerungen gerecht werden kann. Also, warum suchen dann gerade Sie nach allgemeingültigen Erklärungsmustern?

Na bravo, das bringt mich aber nun auch nicht weiter. Sie sind nicht besonders hilfreich heute, Sir Archibald. Jetzt kann ich nur noch heulen.

Nun, nun Madame, jetzt nässen sie doch nicht gleich alles ein. Da, nehmen Sie mein Taschentuch. Aber geben Sie es mir ja gestärkt und gebügelt zurück!

Boah, ich will kein Taschentuch, ich will ne Erklärung, Trost, Mitleid, Streicheleinheiten!

Vielleicht helfen Ihnen ja die folgenden Gedanken über Herrn Z weiter, den ich ja nun seit einigen Jahren zwar nicht sprechen, aber doch in seinem Alltag beobachten durfte:

Herr Z gehört, nach meiner unmaßgeblichen Meinung, zu der Sorte Mensch, der die Jagd bevorzugt. Den die agile, ausweichende, weglaufende, unerreichbare Beute reizt. Da werden seine Sinne hellwach und sein Körper sinnlich und lebendig. Da ist er schlau, trickreich, voller Raffinesse. Ein perfekter Jäger halt.

Liegt die Beute ihm zu Füssen, dann mag er es beschaulicher. Dann wird er zum Jäger, der am heimischen Herd sich ausruht, Kraft tankt für die nächste Jagd. Er braucht Gehorsam, Schweigen, Ruhe, Sicherheit, Bequemlichkeit. Da ist kein Raum für brennendes Begehren, nur eine ruhige tiefe Glut.

Wölfe, zu denen ich Sie zähle Madame, sind ganz ähnlich gestrickt. Wölfe lieben die Sinnlichkeit der Jagd und das heiße Feuer der gewachsenen Nähe. Sie mögen dieses Wechselspiel zwischen dem lockenden Feuer des Unbekannten und eben der tiefen Glut des Bekannten. Sie wissen um den hellen Geschmack des frischen Blutes und um die dunkle Tönung des schweren Saftes von Vertrautem. Sie goutieren beides mit gleicher Intensität.

Hm, doch wie passen Jäger und Wölfin zusammen, wenn der Jäger den Wolf in sich verschließt und die Wölfin sich vor der Jagd ängstigt?

In dem die Wölfin sich ihren wirklichen Ängsten stellt, sie überwindet und dann den Jäger auf die Jagd begleitet. Gemeinsam jagen und gemeinsam die Beute genießen, Madame. Es gibt nichts Sinnlicheres als gemeinsames zielgerichtetes Tun. Ein Tun, indem sich beide ergänzen, wie Zahnräder in einander greifen. Jeder bringt seine besonderen Fähigkeiten und sein spezielles Können für das eine Ziel ein. Sie werden sehen, dann erwacht auch der Wolf wieder im Jäger.

Sir Archibald, das sind zwar wunderschöne Bilder, die Sie da entwerfen, aber im Grunde ist es nur ein metaphysisches Geblubber. Überhaupt nicht konkret. Fakt ist doch: Er begehrt mich nicht. Er begehrt mich nicht, weil ich ihm schon gehöre. Keine Beute mehr bin. Ich brenne vor Sinnlichkeit und er begehrt das Bild seiner Sehnsucht. Er nimmt mich überhaupt nicht mehr wahr. Punkt.

Oh, er und auch die anderen nehmen Sie sehr wohl wahr, Madame. Sie wissen sehr wohl um das wunderbare Geschenk, dass Sie ihnen durch Ihre Liebe und Ihr So-Sein machen: Sie sind die Basis. Sie sind das Fundament, der Hort, die sichere Burg, die es ihnen erlaubt sich ganz und gar frei ihren Träumen und Sehnsüchten hinzugeben. Sie schenken ihnen die Freiheit der Fantasie und der Entscheidung. Denn letztendlich: alle sind noch da! Auch Herr X, wenn auch nicht mehr in Ihrem ummittelbaren Umfeld, ist Ihnen ganz nah. Ein Wort von Ihnen, ein Blick, ein Fingerzucken und er würde, wie die beiden anderen auch, ohne Zögern wie ein Löwe kämpfen für Sie. Sie würden ihr Leben für Sie geben, einfach weil Sie wirklich etwas Besonderes für sie sind. Dies wird sich nicht ändern, Madame. Kein noch so schöner Hintern der Welt, kein noch so geiles Weib wird Ihnen dies jemals streitig machen können. Sie werden wahrlich geliebt, Madame!

Pah! Doppeldreifaches Pah, Sir!

Madame, Sie benehmen sich wie ein bockiges kleines Kind und suhlen sich in Selbstmitleid und Weltschmerz. Jeden hilfreichen Deutungsversuch lehnen Sie ab. Sie scheinen sich recht wohlig in ihrem Leid zu fühlen. Dann verbleiben Sie halt darin und hampeln Sie weiter durchs Zimmer und durch Ihre verquerten Gedanken. Wenn Sie sich mal wieder vernünftig unterhalten wollen, dann dürfen Sie bei mir anklopfen. Vielleicht erübrige ich dann ein wenig Zeit für Sie und wir setzen das Gespräch fort. Jetzt jedenfalls gehe ich zum Essen. Guten Abend, Madame!

Wenn ich bockig bin, Sir Archibald, dann sind Sie die Oberzicke überhaupt. Pah! Guten Abend, Sir.


   
Zitat
(@Anonym)
New Member Gast
Beigetreten: Vor 1 Sekunde
Beiträge: 0
 

Liebe Heidi,

welche wunderschöne "Geschichte", deine Art zu schreiben gefällt mir wirklich sehr gut.

Wow... Ich werde mal schauen, ob ich in meinem Kleiderschrank auch Sir Archibald von der alten Eiche beherberge... Ein Wesen mit so klarem Verstand würde mir bestimmt auch gut tun... 😀

Nochmal: Danke für deinen Beitrag...


   
AntwortZitat
Teilen: